Heinz Dachmann* ist Führungskraft in einem mittelständischen Produktionsunternehmen. Durch seine Erfahrungen als Krisenmanager während Corona ist sein Bestreben nach sicheren und robusten Prozessen noch weiter gewachsen. Er hasst Überraschungen und tut viel, um von ungeplanten Ereignissen und unvorhergesehen Entwicklungen verschont zu bleiben. Gleichzeitig ist Herr Dachmann stets auf der Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten für die bestehenden Systemen, ganz egal ob beruflich oder privat. Er schenkt außerdem aufgetretenen Fehlern und möglichen Fehlerquellen große Beachtung und ist stark an Problemlösungen interessiert.
Im Zusammenhang mit anderen Lösungsansätzen hat Herr Dachmann vor Kurzem erstmals von einer sogenannten HRO gehört. HRO steht für High Reliability Organisation und kennzeichnet Unternehmen, die mit einer hohen Zuverlässigkeit in den Prozessen ausgestattet sein müssen. HRO sind nur in wenigen Branchen bekannt, doch die Lehren, die wir aus einer HRO ziehen können, sind gewaltig und brandaktuell. Bei “Hochzuverlässigkeitsorganisationen” geht es z. B. um den weltweiten Flugverkehr, den sicheren Betrieb von Kernkraftwerken oder die Notaufnahme in einem Krankenhaus.
Die Annahme ist naheliegend, HRO als Rezept gegen unangenehme Überraschungen und plötzliche Krisen zu betrachten. Durch Anwendung der HRO-Prinzipien sollen Unternehmen z. B. so krisensicher gemacht werden wie die Notaufnahme eines Krankenhauses. Doch der HRO-Ansatz geht weiter. Viele Risiken lassen sich mit konventionellen Mitteln der Planung nicht in den Griff bekommen. Große Störungen zeigen häufig die Grenzen des bisherigen Denkens auf. Mit einer durch den Plan bestimmten Abfolge bestimmter Reaktionen lassen sich nur solche Ereignisse in den Griff bekommen, die es schon einmal gab. Der Blick wird auf das fokussiert, was wir ohnehin schon kennen oder erwarten.
Gute Risiko- und Krisenmanager brauchen beides: die bewährten Mechanismen der Planung und die Prinzipien der HRO. Dann entsteht ein wahrer Hotspot guter Ansätze für den nachhaltigen Unternehmenserfolg. Unternehmen werden davor geschützt, dass aus einer Überraschung eine Krise wird.
Um HRO anwenden zu können, müssen sich Unternehmen allerdings von mancher konventionellen Denkweise lösen. Denn der Ansatz passt nicht in die Welt der super effizienten Strukturen, in der jeder Handgriff optimiert ist. Die viele Jahre präsente Denkweise, alles überflüssige zu beseitigen, stand und steht teilweise noch heute den Zielen von Effizienz und Rendite im Weg. Viele Unternehmen machten ihre Organisationen in der Vergangenheit schneller und schlanker. In der Folge wurden sie auch profitabler, aber nicht zuverlässiger oder stabiler. Denn sobald in einer abgemagerten Struktur eine Abweichung auftritt, kann aus einer kleinen Störung schnell ein großes Chaos werden. Dies zu verhindern, ist HRO angetreten. Aber was steckt denn hinter einer HRO?
Es handelt sich gerade mal um fünf Prinzipien.
(1) Ein Geheimrezept der Flexibilität lautet, gezielt Redundanz zu schaffen.
Vielleicht haben Flexibilität und Redundanz auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun. Aber die zweite Maschine in einem verwundbaren Bereich, das Notstromaggregat, der Lagerbestand für bestimmte Teile oder der zweite Beschaffungskanal bilden die Grundlage, um im Bedarfsfall flexibel reagieren zu können.
“HRO-Anhänger haben nicht nur einen Plan B parat, sondern setzen auf echte Redundanz.”
Das Streben nach Flexibilität ermöglicht es, negative Vorkommnisse abzufedern und in einen Vorteil zu verwandeln. Es geht dabei nicht um einen teuren doppelten Boden, sondern um den Wert des scheinbar Überflüssigen durch gezielte Redundanz.
(2) Aufmerksam sein, Wachsamkeit üben und darin nie nachlassen.
Ein Grundgedanke der HRO liegt darin, dass jedes Beben ein Vorbeben hat. Diese kleinen Signale gilt es nicht zu übersehen und als Vorzeichen wahrzunehmen. Werden kleine Krisen rechtzeitig wahrgenommen, lässt sich verhindern, dass große Krisen auftreten. Dabei ist es von Vorteil, genauer hinzuschauen, genauer hinzuhören und die richtigen Fragen zu stellen.
“HRO-Anhänger lieben Frühwarnsysteme und nehmen sie auch ernst.”
Die Sensibilität für betriebliche Abläufe erhöht den Wissensstand über die aktuellen innerbetrieblichen Abläufe im gesamten Unternehmen. Die Mitarbeiter werden für mögliche Gefahrenpotenziale sensibilisiert. Nicht nur Berichte und Tabellen lesen, sondern die eigene Wahrnehmung einsetzen: Sehen, hören, fühlen und riechen.
(3) Keine schnellen Vereinfachungen zulassen, sondern sauber schlussfolgern.
Sich kategorisch zu weigern, einfache Lösungen und schnelle Schlussfolgerungen zu wählen, ist eine wichtige Grundhaltung. Selbst wenn sich im Nachhinein die “einfache” Lösung als tatsächlich gute Wahl herausstellen sollte, sind umsichtige und durchdachte Schlüsse aus Fakten, die aus unterschiedlichen Quellen und Verfahren abgeleitet wurden, unumgänglich.
“HRO-Anhänger verabscheuen vereinfachende Interpretationen.”
Eine Abneigung gegen vereinfachende Interpretationen der Realität ermöglicht einen breiteren Blick auf potenzielle Gefährdungen. Vereinfachende Interpretationen können z. B. vermieden werden, wenn unterschiedliche Verfahren und Ansätze zur Beurteilung einer Situation eingesetzt werden und man sich nicht auf ein “So haben wir es schon immer gemacht” verlässt. Sauber schlusszufolgern gehört zu den wichtigsten Bausteinen einer HRO.
(4) Fehler zum Lernen nutzen und um Systeme und Prozesse zu verbessern.
Auch mit dem Prinzip “Konzentration auf Fehler” ist keine neue Weisheit formuliert. Auffallend ist aber, dass es bei einer HRO nicht nur um eine sich hoffentlich positiv entwickelnde Fehlerkultur im Unternehmen geht, sondern um das systematische Lernen aus Fehlern. Fehlschläge werden regelrecht gefeiert, um für Aufmerksamkeit zu sorgen und gezielt aus Rückschlägen zu lernen.
“HRO-Anhänger werden auf alle Fälle aus Schaden klug.”
Durch Konzentration auf Fehler können Abweichungen vom Normalzustand frühzeitig aufgegriffen werden, bevor sie zu Problemen werden. Früherkennungsmethoden helfen schon in der Entstehungsphase bei der Identifikation potenzieller sicherheitskritischer Ereignisse und basieren auf technischen, automatisierten Systemen sowie auf Mitarbeiterwissen.
(5) Wichtige Fakten und relevante Beobachtungen nicht unerwähnt lassen.
Es geht nicht um Vorsatz oder Widerworte. Tatsache ist aber nun einmal, dass zahlreiche Entwicklungen einen negativen Verlauf genommen haben, weil wichtige Fakten oder relevante Beobachtungen nicht bis zu den Verantwortlichen bzw. den Entscheidern durchgedrungen sind.
“HRO-Anhänger sind mutig und widersprechen auch schon einmal, falls erforderlich.”
Respekt vor fachlichem Wissen und Können vergrößert einen transparenten Informationsfluss und reduziert falsche Entscheidungen. Davon gehen zwei Handlungsstränge ab. Die Führungskraft tut gut daran, sich des Wissens und Könnens vor Ort zu bedienen. Ein regelmäßiger Austausch und eine wertschätzende Ansprache helfen. Auf der anderen Seite liegt es in der Verantwortung der Mitarbeiter, wichtige Fakten und relevante Beobachtungen nicht unerwähnt zu lassen. Überspitzt formuliert lautet die Regel: “Der Mitarbeiter hat die Pflicht, seinem Chef zu widersprechen.”
Zur Nachahmung empfohlen
Von einer HRO lässt sich auf vielfältige Weise lernen. Die fünf Prinzipien liefern das dafür nötige Verständnis. Übertragen lässt sich das wertvolle Wissen auf viele Branchen und nahezu jede Unternehmenssituation.
Mit welchen HRO-Prinzipien werden Sie zum Problemlöser in Ihrem Unternehmen?
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*Der Name ist von der Redaktion geändert.